„Ich bin eine Art Verkehrspolizist gegen Energie-Staus“
Dr. Stefan Ulmer betreibt seit 2003 seine eigene Praxis für Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) und hat diese im Laufe der Jahre zu einem der größten TCM-Zentren Westösterreichs ausgebaut. Im FAQ-Interview erzählt er von seiner bevorzugten Rolle als Weichensteller im U-Bahn-Netz des Körpers und warum westliche und östliche Medizin sehr voneinander profitieren können.
Als „junger“ Schulmediziner eine TCM-Praxis zu eröffnen, braucht Mut und Überzeugung. Hätten Sie am Anfang gedacht, mal auf Jahrzehnte als TCM-Arzt zurückblicken zu können?
Ehrlich gesagt ja. Denn die TCM bietet derart effiziente, individuell angepasste, ganzheitliche Therapiemethoden, dass ich von Anfang an von der Wichtigkeit und Notwendigkeit eines solchen Angebots in unserer Region überzeugt war. Im alten China wurde ein Arzt bezahlt und gelobt, wenn der Patient nicht krank geworden ist, während die westliche Schulmedizin für die Heilung der Erkrankung bzw. die Behandlung der Symptome honoriert wird. Das ist der systemimmanente Unterschied. Die Verbindung dieser zwei Traditionen zum Wohle des Patienten hat mich schon während meines Studiums fasziniert. Dass uns so viele Patienten seit so vielen Jahren ihr Vertrauen schenken und ich mit meinem Team so vielen Menschen helfen konnte und kann, erfüllt mich mit großer Dankbarkeit.
Was sind die häufigsten Symptome, mit denen Patienten zu Ihnen kommen? Welche Erkrankungen lassen sich mit der TCM besonders gut behandeln?
Ach, das ist so vielfältig wie die Menschen selbst. Zu den häufigsten Fällen in meiner Praxis gehören sicherlich Erkrankungen, die ständig wiederkehren und die den PatientInnen einen hohen, teils jahrelangen Leidensdruck verursachen. Viele meiner Patienten kommen – nach westlicher Lehre – „austherapiert“ zu mir in die Praxis. Sprich: Die Schulmedizin kann nichts mehr für sie tun, sie haben jedoch trotzdem einen enormen Leidensdruck, Schmerzen, etc. Viele nehmen seit Jahren zahlreiche verschiedene Medikamente ein, was oft Abhängigkeiten und Folgeerkrankungen nach sich zieht. Auch leidet in den meisten Fällen die Psyche massiv. Gerade bei chronischen Erkrankungen und Schmerzen – auch akuten – können wir sehr rasch und sehr effizient helfen. Generell lässt sich sagen, dass die TCM da ihre ganze Stärke zeigt, wo die Schulmedizin mit ihrem Latein am Ende ist. Ich bin ja selbst praktischer Arzt, da darf ich das schon so sagen. Doch die Grenzen der Schulmedizin sind nicht die Grenzen des Heilungsprozesses.
Die ganzheitliche Sichtweise der TCM trennt nicht zwischen Körper und Psyche eines Menschen. Was nehmen Sie als TCM-Arzt alles wahr, wenn ich zu Ihnen zum Erstgespräch komme?
Ich pflege immer eine uralte TCM-Weisheit zu zitieren, die lautet: „Die Zunge lügt nicht, solange sie ruhig ist“. Entgegen der östlichen Tradition benötigen wir jedoch in unserer westlichen Kultur auch ein Anamnese-, also ein Diagnosegespräch, in dem mir der Patient seine Situation in Worten schildert. Zuhören, Anschauen, Körperhaltung, Pulsbeschaffenheit, Zungendiagnostik und einiges mehr liefern Indizien und vermitteln mir ein komplexes Bild vom Gesamtgeschehen in Körper und Psyche des Patienten. Das Symptom, wegen dem er zu mir kommt, steht ja auch in Zusammenhang mit äußeren Einflüssen, mit Stress, mit bisher Erlebtem, mit der Alltagssituation. Diese exogenen Faktoren ergeben zusammen mit den endogenen, also jenen im Körper, die TCM-Diagnose. Bevor ich eine Therapie zusammenstelle, kläre ich natürlich ab, ob die vorliegende Erkrankung unmittelbarer schulmedizinischer Intervention bedarf. Das ist für mich ethisch verpflichtend und unumgänglich. Wenn nicht, bekommt der Patient eine individuell an seine Situation angepasste Kombinationstherapie für ein optimales Ergebnis.
Welche Behandlungsmethoden sind das in erster Linie?
Unsere Therapie setzt sich zusammen aus Akupunktur, energetischen Massagen wie Shiatsu, chinesischer Kräutertherapie, Qi-Gong oder 5-Elemente-Ernährung , etc. Die TCM behandelt nicht nur das Symptom, sondern die Ursache, damit der Patient sein Leben beschwerdefrei – und zwar nachhaltig beschwerdefrei – und im Idealfall ohne Medikamente leben kann. Unsere Aufgabe besteht darin, Gesundheit zu fördern, aufkommende Krankheiten abzuwehren und gegen bestehende anzukämpfen. In welcher Situation der Patient auch ist: Wir sehen die Verbesserung seiner Lebensqualität als oberstes Ziel.
Der Selbstheilung kommt da ein großer Stellenwert zu?
So ist es. Als TCM-Arzt und -Therapeut bin ich nur ein Regulator, der darauf schaut, dass alles „im Fluss“ bleibt. Ein Vergleich: Wenn irgendwo an einer Kreuzung im Körper ein Stau auftritt, bin ich der Verkehrspolizist, der dafür sorgt, dass er sich auflöst. Danach regelt sich das System Körper wieder ganz von selbst.
Mit „im Fluss“ meinen Sie die Lebensenergie Qi, einen der wesentlichen Aspekte der TCM? Wie kann man sich das vorstellen?
Am besten vielleicht wie ein städtisches U-Bahn-Netz: Die sog. Meridiane sind die Haupt-Leitbahnen im menschlichen Körper, jedem von ihnen ist ein bestimmter Funktionskreis – fünf an der Zahl, entsprechend den 5 Elementen – im Organsystem (Herz, Leber, Lunge, Niere und Milz) zugeordnet. In den Meridianen fließt die Lebensenergie Qi, vereinfacht am besten vergleichbar mit elektrischen Impulsen, die sogar mit feinem Gerät messbar sind. In der Vorstellung der TCM ist Gesundheit untrennbar verbunden mit einem freien und ausreichenden Fluss des Qi in den Meridianen. Die Hauptenergie durchfließt den menschlichen Körper in 24 Stunden einmal komplett. Passiert nun ein Stau – um beim Bild mit der U-Bahn zu bleiben – geht gar nichts mehr. Schmerz irgendwo im Körper ist ein solcher Stau und ich als TCM-Arzt bin in der Therapie ein Weichensteller für die unterirdischen Geleise. Ich manipuliere bzw. behandle in der Akupunktur und im Shiatsu die Akupunkte entlang der Meridiane. Sie sind so etwas wie die U-Bahn-Stationen, wo ich Einfluss auf das gesamte System nehmen kann. So ermögliche ich dem Patienten, gesund zu bleiben bzw. wieder gesund zu werden.
Sie akupunktieren ja in den meisten Fällen an ganz anderer Stelle als dort, wo es primär weh tut. Warum?
Wenn ein Patient mit chronischen oder akuten Schmerzen zu mir kommt, dann darf ich nicht direkt die schmerzhafte Stelle behandeln. Das würde er auch gar nicht zulassen. Nun weiß ich aber als TCM-Arzt um den Zusammenhang des ganzen Systems aus Meridianen, Akupunkten und Funktionskreisen. Ich muss nur den „Schaltplan“ exakt definieren und lesen können. Stellen Sie es sich so vor: Wenn ich irgendwo ein Licht einschalten will, gehe ich ja auch nicht direkt zur Glühbirne, um sie reinzuschrauben, sondern verwende den Lichtschalter, der weit weg von der eigentlichen Lichtquelle ist, aber mittels Elektroleitung direkt mit ihr verbunden.
Mit „Licht einschalten“ meinen Sie den Schmerz behandeln?
Ja. Die Methoden sind so effektiv, dass sie zum Teil stärker und schneller schmerzlindernd wirken als Opiate. Die TCM leistet eine Schmerztherapie ohne Nebenwirkungen und vor allem nachhaltig, weil eben nicht nur das Symptom, sondern die Ursache bekämpft wird.
Die Grenzen der westlichen Schulmedizin sind also der Anfang der TCM. Kann man das so sagen?
Jein. Die westliche Schulmedizin ist eine Wissenschaftsmedizin mit ca. 100 Jahren Forschungstradition. Die TCM hingegen ist eine Erfahrungsmedizin mit einer mehrere tausend Jahre zurückreichenden Geschichte. Insofern können sich die beiden Traditionen bzw. Lehren sehr gut ergänzen. Ich komme aus der westlichen Schulmedizin und bin sehr froh, dass es sie gibt. Aber ich weiß eben auch um die Stärken der TCM. Das Wichtigste ist – vor allem für die Patienten – dass die Vertreter der westlichen und der östlichen Medizin einander Respekt entgegenbringen, eigene Grenzen und Grenzen des eigenen Systems erkennen und die jeweils andere Lehre zu Rate ziehen, wenn dies angezeigt ist.
Vielen Dank für das Gespräch!
Dr. Stefan Ulmer, Jahrgang 1969, promovierte 1996 zum Dr. med. univ. in Innsbruck. 2003 gründete er in Seefeld seine TCM-Praxis und übersiedelte 2005 mit seinem Team nach Telfs. Dort lebt und arbeitet der aus Dornbirn/Vorarlberg stammende „überzeugte Wahltiroler“.